Der große Elektronikmusiker unseres niederländischen Nachbarlandes, Ron Boots, ist eine neue Kollaboration eingegangen. Dieses Mal hat er sich seinen Landsmann Michel van Osenbruggen ausgesucht, der den Elektronikfreunden besser als Synth.NL bekannt ist. Ron hat in seiner Karriere schon mehrfach Preise eingeheimst und auch Michel steht dem nicht nach, hat er doch in der Hörergunst des Schallwellepreises 2009 (Anfang 2010 abgehalten) mit „OceanoGraphic“ das Album des Jahres geliefert.

Ron und Michel kennen sich seit 2006. Seit 2007 ist Michel beim Groove Unlimited-Label untergekommen, bei dem auch Ron mitarbeitet. So kam es, dass sich die beiden Frauen der Musiker (sie lernten sich über die Zusammenarbeit kennen) 2010 zu einem gemeinsamen Urlaub in den belgischen Ardennen verabredeten. Ron und Michel mussten zu diesem Trip natürlich einige Elektronikinstrumente mitnehmen und so entstanden die Stücke, die im Oktober unter dem Titel „Refuge en Verre“ erschienen sind. Der Titel der CD wurde dabei ganz einfach dem Namen des Hausesentliehen, das die beiden Familien bewohnten.

Acht Stücke haben die beiden in den Ardennen entwickelt, deren Laufzeiten zwischen 5:15 und 12:16 Minuten liegen. Allein drei Tracks sprengen die zehn Minuten-Marke und drei weitere liegen bei mehr als acht Minuten Spielzeit.

Synth.NL’s musikalischer Stil liegt zwar eher in der Nähe von Jean Michel Jarre, aber doch nicht so weit von Ron Boots’ Sound entfernt und so ist es nicht verwunderlich, das beide sehr gut miteinander harmonieren. Den Beginn macht das Titelstück, das mit 12:16 Minuten auch das längste des Albums ist. Hier wird Ron’s Handschrift sehr deutlich. Seine typischen Rhythmusstrukturen und synthetischen Klangfarben treten gleich in den Vordergrund. Das klingt vertraut und harmonisch. Wer Ron Boots mag, der bekommt hier die volle Ladung. Dieser Track ist das erste Ergebnis der Zusammenarbeit der beiden Musiker und so ist es nur logisch die CD damit zu beginnen und ihm diesen Titel zu geben. Ein toller Einstieg in ein klasse Elektronikalbum.

Auch das zweite Stück trägt einen Namen aus der Urlaubsregion. „La Roche-en-Ardennes“ ist nicht nur der Titel des Stückes, sondern auch der Name des Ortes, in dem sich das Ferienhaus steht. Es beginnt sehr sanft mit herrlichen Flächen und einer eingängigen Melodie, bei der (aus meiner Sicht) Michel den Ton angegeben hat. Die wundervolle Natur spiegelt sich in diesem Stück wieder.

Das Wetter in den Ardennen ist – wie auch in anderen Bergregionen – recht unbeständig und kann sich schnell ändern. Dies haben die beiden in dem Stück „Orage d’été“ verarbeitet. Und so beginnt das Stück auch gleich mit Donnergrollen und Regenschauern. Inspiriert wurden die beiden, als das Grollen eines Gewitters abends in der Ferne zu ihnen herüberschallte und sie ein Glas Wein auf der Terrasse tranken. Ein Titel, der nach wenigen Momenten recht entspannt klingt und bei dem neben einem Sound, der einem Saxophon gleicht auch ethnische Sounds
Einzug halten (man könnte sich auch in den amerikanischen Weiten bei einem Indianerstamm befinden).

„Coucher du soleil“ wirkt majestätisch und erhaben. Die beiden haben den Blick, den man hinter ihrem Ferienhaus hatte und von dem sie den Sonnenuntergang genießen konnten, in diesem Track sehr eindrucksvoll eingefangen. Der französische Titel „Contemple du ciel“ bedeutet soviel wie Sterngucken. Auf die Idee zu diesem Stück kamen die beiden, als sie mit ihren beiden Frauen einen abendlichen Spaziergang machten und der klare Abendhimmel den Blick auf die Sterne zuließ. Dabei erhaschten sie in einem kurzen Augenblick die Internationale Weltraumstation am Himmel. Ein sehr schöner, ruhig dahin fließender Track.

Die Nächte in den Ardennen kühlen sich schnell ab und sorgen für Tau auf den Wiesen und Pflanzen in der Region. Bei den morgendlichen Spaziergängen ließen sich die beiden von dieser wunderschönen Atmosphäre beeinflussen. Das Ergebnis ist das zarte und verträumte „Rosée du matin“.

Der Humor unserer niederländischen Elektroniker spiegelt sich in dem Stück „Combat des coqs“ wieder, was soviel wie Hahnenkampf bedeutet. Es thematisiert den morgendlichen Weckruf eines Hahnes in der Nachbarschaft des Ferienhauses. Von diesem wurden die beiden Familien jeden Morgen geweckt. Doch statt nach einigen Momenten aufzuhören, lieferte er sich einen Wettbewerb mit einem weiteren Hahn, der in einiger Entfernung auf die Schreie antwortete. Das ging dann ca. 20 Minuten so. Das danach keiner mehr ein Auge zu machen konnte, ist wohl jedem klar. Das Stück beginnt mit einer Naturidylle, die von den beiden Hähnen (sie schreien aus beiden Boxen) durchbrochen wird. Dann entwickelt sich aber wieder so ein druckvoller und rhythmischer Track (mit einem Schlagzeugrhythmus, der sich nach Harold van der Heijden anhört), wie man ihn von Ron liebt. Den Abschluss bildet dann „Soleil levant“.

Mit „Refuge en Verre“ ist den beiden niederländischen Elektronikmusikern ein tolles Album gelungen, das ganz in der Tradition der Ron Boots-Veröffentlichungen steht. Die meisten Stücke tragen deutlich seine Handschrift. Wer auf die „Eindhovener Schule“ steht, der kann bedenkenlos zugreifen.

Stephan Schelle, Dezember 2010

 

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